[...] Die Negativbewertung der Melancholie beginnt im Mittelalter. Saturn gilt als das Unglücksgestirn. In der christlichen Einfärbung der Temperamentenlehre wird die Melancholie zur Sünde: unter dem Namen "Acedia" bezeichnet sie die Todsünde der Tücke, der Trauer, des Stumpfsinns und der Herzensträgheit, der Verhärtung gegenüber der Gnade. Es sind dies Revolten gegen die göttliche Schöpfung, deren Schönheit und sinngesättigte Ordnung der Melancholiker zu verneinen scheint. Die bestehende theologische (und damit gesellschaftliche) Ordnung erweist sich beim Melancholiker als wirkungslos.
Er verkörpert das Temperament, an dem die verbindlichen Sinnangebote und Werte der Gesellschaft abprallen. Mit der Hartnäckigkeit seiner schwarzen Gesinnung, seinem ungläubig in die leere Ferne schweifenden Blick, mit der Düsternis seiner Gefühle stört er das Sinn- und Normengefüge der Kultur. Der Melancholiker ist Störenfried, weil er den gesellschaftlichen Konsens stört, er ist Sünder, weil an ihm der göttliche Kosmos zu zerbrechen scheint.
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Die Kritiker der Melancholie erweisen sich allzu oft als Anwälte der Ordnung, der Gesundheit des Staates und einer seelischen Normalität, die an der kleinen alltäglichen Zufriedenheit genug hat. Dagegen setzt der Melancholiker den bösen Blick. Hinter dem schönen Schein der tanzenden Frau Welt entdeckt er die Geschwüre, den Eiter, das ekelhafte Gewürm und Gezücht, das den Körper der Gesellschaft zum Monument der Fäulnis macht. Im empfindlichen Gefüge des Friedens spürt er schon die Spannungen und Risse, die den Krieg vorausdeuten. Was eben noch erbaut wird im Willen, die Zeit zu überdauern, sieht er schon als künftige Ruine.
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n dunkleren Augenblicken wissen wir, daß der Weg unserer Handlungen und Geschichte auch einer des Todes ist. Jede Entscheidung läßt die vielen verworfenen Möglichkeiten sterben; wir leben von einer Unzahl getöteter Kreaturen; wir töten, was uns als Feind gilt; wir kranken daran, daß wir nicht ewig sind; wir bauen, schaffen, arbeiten in wütender Obsession an unserem Überleben wir setzen auf unsere Dauer in Werken, Kindern, Institutionen. Der Melancholiker aber sieht, daß das Leben auf einer gewaltigen Welle des Todes in eine Zukunft strömt, die die "Schädelstätte der Geschichte" (Lucacs) nur vergrößert. Darum ist die Ruine der eigentliche Ort des Melancholikers.[...]
Hartmut Böhme: Natur und Subjekt. Kritik der Melancholie und Melancholie der Kritik. Frankfurt am Main 1988. II. Subjektgeschichte - sehr interessanter Artikel!
(damit ihr wisst, womit ich mir die Nächte des Wochenendes um die Ohren schlage)
Rucola - 2. Dez, 09:39